Sonntag, 22. November 2015

Pilgram. Wagner. Wotruba.

Stephansdom - Heldenplatz - Mariahilf - Fünfhaus - Meidling - Schloß Schönbrunn - Gloriette (238m) - Rosenhügel - Mauer - Wotruba Kirche - Lainzer Tor - Friedensstadt - Hörndlwald - St. Veiter Tor - Hacking - Hütteldorf - Baumgartner Höhe - Otto Wagner Kirche (328m) - Stachant - Thaliastraße - Lärchenfelderstraße - Heldentor - Stephansdom (171m)

Mariä Opferung, 21. 11. 2015, 12 Stunden, 36,5 km, 901 Höhenmeter (aufsteigend)




In der Früh, kurz nach Sieben, ist der Stephansdom noch nicht vom Weihrauch erfüllt, und eine Schar WienerInnen hat sich vor dem Hauptaltar zu Laudes und Frühmesse versammelt. Das Betreuungsverhältnis ist gut, und das Domkapitel von St. Stephan erzählt vom Gedenktag "Unsere Liebe Frau in Jerusalem" (oder auch Mariä Opferung).
Die gotischen sind uns schon die liebsten, stellen Kollege G. und ich fest, als wir später den Dom verlassen, um uns auf den Weg zu machen. Das heilige Wiener Dreieck sollte es diesesmal sein, der Steffl in der inneren Stadt, die Wotrubakirche in Mauer, die Wagnerianische in Ottakring, und dann wieder der Steffl.

Die Stadt ist noch recht leer, hoch hängen die drohenden Vorboten des Weihnachtsgeschäftes, die Girlanden und hässlichen Kronleuchter, ab und an sieht man eine suchende Touristin mit einem Rollköfferchen über die Pflastersteine des Grabens holpern. Den Heldenplatz verlassen wir durch sein Tor, um uns nach Mariahilf aufzumachen. Dort begegnet uns ein Minister, die Herrenhandtasche flott um die Schulter geschlagen, der wohl seinen weltlichen Erledigungen am Ballhausplatz nachzugehen hat, am Wochenende, während wir uns der Kirche St. Josef ob der Laimgrube zuwenden, und später der Pfarre St. Ägyd in Gumpendorf. Dort drinnen findet gerade die Frühmesse statt, und von hinten sieht man sieben weiße Köpfe in ihren Haarnetzen. Sie ist nicht gotisch, die Gumpendorfer Pfarrkirche, und ist in das fast dörfliche Ambiente des Kurt-Pint-Platzes eingebettet. Hier gemahnt uns die Auslage der Fleischererei Ringl, dass uns ohnehin keiner das vom Weltlichen abgewandte abnehmen würde So bewundern wie die Grobians, oberarm-dicke
Ringl-Knacker
Dauerwürste, die die Auslage zieren. Die Leberkäs-Theke macht den oberösterreichischen Leberkäs-Invasoren (Pepis) in sich ruhende Konkurrenz. Weiter, über den Gürtel, nach Fünfhaus hinein, bemerken wir, nicht zum letzen mal, wie radikal die Stadt sich über Bezirksgrenzen hinweg verändern kann, obwohl natürlich auch in Mariahilf nicht alles gülden glänzt, das Arik Brauer Haus viel Patina angesetzt hat (Baujahr 1990), und eine Reihe Geschäfte leer stehen. 

Unser Ziel ist jetzt Schönbrunn, wir überschreiten die Wien, erstmalig heute, auf Höhe der Meidlinger Hauptstraße und  kommen am Fuße des Grünen Berges hinein in den Park des Schlosses. Kurz zum Taubenhaus, wo ein älterer Herr die Tauben füttert, die sich außerhalb der Voliere angesiedelt haben. Neben sich hat er feinsäuberlich sechs Säckchen mit Nüssen und Kernen aufgebaut, Georg Kreislers Taubenvergiften wird ihm wohl ein Gräuel oder unbekannt sein.



Ach, und dann die Gloriette. Heute heiratet niemand, es wär auch nicht das richtige Wetter, und uns zieht's zum Emu, der nicht unweit dahinter sein Gehege, außerhalb des Tierparks hat. Die unvermeidlichen Eichhörnchen berauben die Vogelhäuschen, und fast hätte ich einen Läufer umgerannt, weil ich zu intensiv das GPS betrachte. Besser einen Läufer als einen der gestressten Väter mit Kinderwägen, denke ich mir, Schönbrunn halt.
Sie sind überall. Auch in der Griepenkerlgasse.
Dann über die Gleise der S60, der Ostbahn, mit der mal einmal in der Stunde von Hüttldorf nach Bruck an der Leitha reisen könnte (wer will das schon), zwischen 12. und 13. Bezirk in Richtung Mauer, dem 23. Die Gemeindebauten hören auf, und wir bewegen uns, unter anderem am Rosenhügel, durch Eigenheimträume aus unterschiedlichen Epochen. 
In der Griepenkerlgasse verweilen wir ein wenig, um uns einerseits nicht darüber einigen zu können, wie man "Griepenkerl" ausspricht, "Grie-penkerl" oder "Griepen-kerl", anderseits, um länglich über die Grausamkeiten des Weihnachtsschmuckes zu klagen. Während Wikipedia Anhaltspunkte zum ersteren Problem gibt, bleiben wir in der zweiteren Problemlage ohne Trost.


Maurer Perle.

Die Maurer Lange Gasse ist seltsam. Einerseits parken hier die Jaguare mit ihren Wunschkennzeichen, die an vergangene, bessere, schwarze Zeiten gemahnen ("W-W1234"),  in denen man noch auf das dreistellige Kennzeichen sparen konnte. Zu früh gealterte 30 Jährige fahren hier ihre Mercedes Kombis vor, nur um sich beim Aussteigen das Sportsakko gerade streichen zu müssen, das samstägliche. Andererseits blättern gleich neben dem renovierten Weinhauerhaus die Eternitschindeln vom Wohnturm. Ist noch ein Weg hin zur Döblingersier- und Verhietzingerung. 

Die Kirche zur Heiligsten Dreifaltigkeit in Wien-Mauer steht nicht in Einzellage, aber fast, ist naturgemäß verschlossen und beeindruckend. Die Initiative zu ihrem Bau ging von Margarethe Ottillinger aus, einer der faszinierendsten Persönlichkeiten des Nachkriegsösterreich, und basiert auf einer Idee Fritz Wotrubas. Architekt war ein anderer. (Und ja, Meister Pilgram war auch nicht der einzige und erste Baumeister St. Stephans, aber mit W war keiner zu finden, der Alliteration im Titel wegen.)
Wotruba

In die Weinberge, in Richtung des Lainzer Tiergartens, Wir folgen nun über weite Strecken der Mauer, die den Tiergarten umgibt, und genießen in der nächsten Stunde für uns ungewöhnliche Ausblicke auf die Stadt und das Wiener Becken. Vorbei am Tor, und wir wechseln zwischen Waldweg und Einfamilienhäusern. Im Gasthaus zum Lindwurm machen wir Rast, verweigern aber die Lindwurmplatte, und bedauern uns ein wenig wegen des heranziehenden Muskelkaters. Zum Wald gibt es wenig zu sagen, er ist nun blattlos, die Wege haben unter dem Regen der Vortage gelitten. Von flacher Topographie zu sprechen wäre falsch. Und die Eigenheime? Hier etwas zeitloses zu schaffen ist, glaube ich, eine der schwierigsten Aufgaben, vor der ArchtiektInnen stehen. Gott Sie Dank ist das Zeitalter der Säulen größtenteils vorbei, der Bungalowdächer, des Schmiedeeisens, der Fensterfaschen. Mit Wehmut mag man das Dahinschwinden der Glasbausteine sehen, der Panoramafenster und der Veranda. Aber halt, das Panoramafenster. Das wirklich große Fenster, das quasi einen Wandteil ersetzt, das ist im Kommen. Die Wanderer sind uneins, ob dies zu begrüßen ist: einerseits belebt es die Konjunktur - man wird wieder vermehrt Vorhangstoffe kaufen - andererseits ermöglicht es die Nabelschau durch die Nachbarn, die wohl nicht überall erwünscht ist. Der eine Wanderer stellt das Postulat in den Raum, das hohe, schmale Fenster, französische Fenster nun das Maß aller Dinge wären, der andere ist froh, dass ein gemeinsamer Fenster- und Vorhangkauf der Wandersleut' wohl nie in Frage kommen wird. So vergeht die Zeit, im Wiental möchten wir im übrigen beide nicht wohnen, und beim Bahnhof Hütteldorf überqueren wir nochmals den Fluss.


Wagner
Und ja, man muss zugeben, jetzt werden die Gespräche weniger, jedoch nicht weniger der mangelnden Themen wegen. Die Ermattung macht sich breit. Vorbei am Dehnepark. Durch die Pavillons der Baumgartner Höhe. Hinein in die Otto-Wagner-Kirche. Aus Bergottakring wird Talottakring, und wir gehen raschen Schritts die Thaliastraße hinunter. In der Thaliastraße wechseln Imbisse, Handyshops und Damenmodengeschäfte in rascher Folge, ein Bestattungsunternehmen und ein Farbengeschäft lockern auf. Hier kann man noch günstig Abendkleider kaufen, die Auswahl an Pizaaschnitten mit Mais ist riesig, nur der Brautmodenhaus Vondrou ist von hier in den ersten Bezirk gezogen. In der Lärchenfelder Straße dann werden die Karten neu gemischt, hier läßt Bobostan grüßen und eine reichliche Restaurantszene. 

Durchs Heldentor hinein in die innere Stadt. Viele Fiaker sind unterwegs, die Punschstände sind gut gefüllt, kein Wunder, heute ist auch der erste kühlere Tag seit langem. Die Weihnachtsbeleuchtung leuchtet nicht, es muss Stromausfälle gegeben haben, und TouristInnen und WienerInnen steigen sich am Graben auf die Zehen. 




Im Stephansdom ist gerade eine Messe zu Ende gegangen, der Weihrauch liegt noch in der Luft. "Weihrauch hat ja gar keine Psychoaktivität", raunt mit G zu, und wir einigen uns darauf, es heute mit Menthol und einem Vollbad zu versuchen.

Sonntag, 7. Juni 2015

Dem Mühlviertel aufs Dach gestiegen

04.06.2015 - 07.06.2015. Auf Stifters Spuren via Schlägl und Klaffer nach Holzschlag, auf den Dreisessel und den Plöckenstein. Ein Fronleichnamsausflug.

„Meine ganze Seele hängt an dieser Gegend“

Hartauer, Alexander, Böhmen! Stifter.

Ich bin wegen Andreas Hartauer hier, nicht nur wegen Adalbert Stifter. Wegen Hartauer und Peter Alexander, um genauer zu sein. 
Zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen gehört meine Dauerbeschallung mit der oberösterreichischen Version des österreichischen Regionalradios. Neben den üblichen Schäden ist mir davon eine gewisse Textsicherheit in den Schlagern der 70iger  im allgemeinen geblieben und die Erinnerung an zwei "böhmische" Gassenhauer im speziellen. Dank Peter Alexander ("Wie Behmen noch bei Öst'rreich war") weiß ich nun, dass sich "Prag" auf "Katholikentag" reimt; Andreas Hartauer war ein sentimentaler Glasbläser des 19. Jahrhunderts, der im Böhmerwald aufgewachsen war und sich später in St. Pölten ansiedelte. Dieses triste Schicksal hat wohl maßgeblich zur Verklärung der Jugendzeit beigetragen, er hinterließ uns das "Böhmerwaldlied" (hier interpretiert von der unvergleichlichen, zu früh verstorbenen Lolita)

Wegen dem Adalbert Stifter bin ich schon auch da. An seiner - nicht an meiner - Seele hängt ja diese Gegend. Es geht in seinen "Hochwald" "zu jenem Gränzknoten, wo das Oesterreichische Land mit Baiern und Böhmen zusammenstößt". Dort schieße "ein mächtiges Gewimmel mächtiger Joche und Rücken gegen einander" und im Waldesblau klitzerten "wogendes Hügelland und strömende Bäche".

Vom Dreisessel zum Plöckenstein


Mit der moralischen Überlegenheit von VegetarierInnen ist es nicht weit her

Bevor ich meinen Weg auf das Dach des Mühlviertels beginne, wird in Aigen (das erst vor kurzem mit Schlägl zu einem Gemeindeverbund zusammengelegt wurde) im Bärnsteinhof (ein "Kleinod der Gastlichkeit") zu Mittag gespeist. Die Karte dort ist nicht sehr mühlviertlerisch - kein Wunder, der Bärnsteinhof ist ein "Kräuterhotel". Keine Spur von meinem geliebten Leberschädl, keine Spur einer Beuschlsuppe. Die Küche ist dennoch ausgezeichnet, alles ist knackig, frisch und selbstgemacht. Am Nebentisch zeigt sich ein RadfahrerInnenehepaar (Elektro) über das (in der Tat) reichhaltige vegetarische Angebot begeistert. Man diskutiert, was man essen solle.

Er: "Das Kohlrabi-Carpaccio, ist das mit Fleisch?"
Sie: "I glaub net."
[Pause]
Er: "Ess I trotzdem net."
[Pause]
Er: "Spargelrisotto. Is des mit Nudeln?
Ein oberösterreichischer Vegetarier von Welt.

Am Weg nach Holzschlag

Donnertag, 04.06. 2015. Fronleichnam. Aigen - Schlägl (544m) - Ulrichsberg - Klaffer (638m) - Pfaffetschlag (670m) - Holzschlag (863m). 24 km, 561 Höhenmeter

Der Papst und ich

Ich beginne die Wandertage in der Kerzenwelt Schlägl, einem "Museum" mit riesigen Verkaufsflächen. Das Geschäft ist ein Hort des guten Geschmacks. Im Museum wird eine Figur des emeritierten Bayernpapstes (Papst Franz wird wohl noch in Produktion sein) aus-, das letzte Abendmahl wird mit lebensgroßen Wachsfiguren nachgestellt. Drei der Jünger Jesu scheinen uneheliches Geschwister der Conchita Wurst zu sein, und die Hände aller 13 Wachsfiguren sind ähnlich feingliedrig wie die von gerade in Pension gehenden Waldarbeitern.
Die Mühl
Hernach geht es entlang der Mühl, in großer Hitze, in Richtung Ulrichsberg und Klaffer. Noch in Schlägl vergnügt sich die Jugend im Freibad. Ich widerstehe der Versuchung. Zwar hatte ich Wien-Ottakring zu einer Zeit verlassen, zu der die Straßenbahnen noch im 17-Minuten-Takt fuhren, doch die Mühlkreisbahn, die mich von Linz nach Schlägl bringt, ist kein Expresszug und kämpf noch dazu von Station zu Station mit defekten Türen. Es ist schon spät.
Der Weg entlang der Mühl ist so, wie man sich Wege entlang von kleinen Flüssen und Bächen vorstellt: beschaulich und unaufgeregt, untermalt vom leisen Plätschern des Wassers, da und dort eine Wehr, viel Grün. Schön. Menschen treffe ich kaum, nur knapp nach Schlägl kommt mir eine Mühlviertlerin in Sportkleidung unter einem blauen Schirm entgegen, was mich bei strahlendem Sonnenschein doch überrascht, wir sind nicht in Nippon. Und vor Ulrichsberg durchkämmen zwei Herren in Untergatten die Mühl, etwas was ich tunlichst nicht hinterfrage.
In Ulrichberg selbst mache ich Rast.  Jeder Niederbayer mittleren Alters, der auf sich hält und ein Motorrad besitzt, tut dies heute auch. Gott sei Dank gibt es in Ulrichsberg vier Kaffeehäuser. Das Ulrichsberger Enthaarungsstudio "Energethik" hat am Feiertag naturgemäß geschlossen.
Weiter, in Richtung Klaffer. Hier bemerke ich erstmals in der Ferne den kahlen Bergrücken zwischen Dreisessel und Plöckenstein. Ich versuche die Straße bald zu verlassen und folge einem Weg, gerahmt von verwitterten Schautafeln einer Ausstellung aus 2005. Nach Klaffer komme ich über den Kräutergarten des Ortes ("Kräutergemeinde Klaffer"), vorbei an der Kirche, die, genauso wie die Hauptstraße, noch mit Birken geschmückt ist - es ist ja Fronleichnam, am Vormittag war Prozession. Dort bei der Kirche bemerke ich: In Klaffer trägt man noch Kropf.
Die Holzwirtschaft ist eine tragende Säule.

Beim örtlichen Wirten mache ich halt, und mein Glauben, die oberösterreichischen Dialekte gut aktiv und passiv  zu beherrschen, wird empfindlich erschüttert. Ich bestelle Soda Zitrone - und bekomme Cola-Leitung. Der Wirt bringt gerade seine Sommerbar - quasi ein sommerliches Apres-Ski-Schwammerl - in Schwung, und zwei Herren sind dort noch von der vormittäglichen Feier der leiblichen Gegenwart Jesu Christi im Sakrament der Eucharistie übrig geblieben, der jüngere von ihnen in der Ausgangsuniform des oberösterreichischen Kameradschaftsbundes OÖKB. Ich frage mich ja, ob der OÖKB eine ähnliche Karriereschmiede ist wie der Cartellverband, jedenfalls haben beide ähnliche Frauenquoten. Aber das führte wohl zu weit.
Ich erkundige mich nach dem Weg nach Holzschlag, und der Herr ohne OÖKB-Uniform erklärt beredt. Ich bin dankbar, dass der Wirt mir übersetzt. Beim Gehen sitzt der junge Herr in OÖKB-Uniform an einem Tisch mit Neo-ÖsterreicherInnen und erzählt von seiner schweren Kindheit in Amerika.... Er könnte natürlich auch etwas völlig anderes erzählt haben, meinen Kenntnissen des Oberösterreichischen würde ich, gerade in Klaffer, nicht mehr trauen. Nach Pfaffetschlag geht es dann beständig bergauf, der Straße entlang. Ein sehr freundlicher Klafferer nimmt mich den letzten Kilometer mit seinem Jeep mit, was ich mehr als dankbar annehme.

Dreisessel

05.06.2015. Holzschlag (863m) - Grenzübergang I/10 Zollhütte (1003m) - Grenzübergang Bayern-Österreich (1153m) - Steinernes Meer - Dreisesselberg-Schutzhaus - Bayrischer Plöckenstein (1364m) - Dreieckmark (1321m) - Plöckenstein (1379m) - Grenzübergang I/10 - Gasthaus zum Überleben (944m) - Holzschlag (863m). 26 km,  950 Höhenmeter

Frühmorgens gehe ich los, eine leicht ansteigende Forststraße entlang, hinauf zur Grenze, vorbei an den Aufstiegshilfen des Skigebietes am Hochficht. Am ehemaligen Zollhaus wende ich mich westwärts, und weiter geht's, bergauf. Irgendwann verlässt man dann die Forststraße, und ich folge der recht eindeutigen, weil einmal nicht einfallslos rot-weiß-gestreiften Wegmarkierung des Nordwallkammweges, der den Dreisessel mit dem Nebelberg verbindet. So eindeutig blau-weiß die Markierung ist, so wenig scheint der Weg begangen zu sein; man stapft durch Wiesen voll Heidelbeersträuchen und zwittriger Krähenbeeren in Richtung Deutschland. Passt man nicht auf, versinkt man da und dort in nassen Wiesen.

Die Landschaft, entstiftert.


An der deutschen Grenze ändert sich der Zustand des Weges, man steigt im wahrsten Sinne des Wortes über mächtige Steinblöcke durch das "Steinerne Meer": Granit, zum Teil mit grüner Flechte bewachsen, eine eindrückliche Landschaft. Hier werden die grauen Baumleichen, die den Dreisessel und dann den Plöckenstein prägen, immer mehr. 
Begonnen hatte es mit Fichtenmonokulturen. Die Glasindustrie der Region des 18. und 19. Jhdts., auch die in Schlägl und Schwarzenberg, brauchte Unmengen Brennholz, man setzte auf schnellwachsende Gehölzer, eben die Fichte. Dann kam im 20. Jahrhundert der saure Regen (Emissionen aus der Ruhrregion), der dem Wald zusetzte. Schneebruch, und kurz darauf der Sturm Kyrill 2007 taten das ihre, der Borkenkäfer in weiterer Folge das seine. Die Naturparkregionen in Bayern und Tschechien (Nationalpark Šumava) entschlossen sich in weiterer Folge, die Natur hier ForstwirtIn sein zu lassen und ließen das Holz liegen. Noch heute, bald 10 Jahre später ist man geneigt, die Landschaft hier mit einer Mondlandschaft zu vergleichen.

Hie Österreich, dort Tschechien, in der Mitte der Grenzweg.

Wohin man schaut Totholz, und nur zaghaft wachsen hier und da Nadelbäume nach - und etwas, was ich für Vogelbeersträucher halte. Kyrill und der Borkenkäfer haben die Landschaft hier entmystifiziert - "entstiftert", wenn man so will, und so mancher Ausblick hier rührt den Industrieromantiker in mir. So gnießt man hier den Fernblick ins Böhmische, zur Moldau, und nach Schwarzenberg und in Richtung Schlägl, während sich die Menschen dort unten noch heute vor dem "scharfen Wind von de Beehm"  fürchten.

Jessica

Ich wohne im Ereignishaus Holzschlag, einem Haus "in Einzellage", das wohl am besten als Jugendherberge zu bezeichnen ist. Es hat 66 Betten, und ist auf Gruppenreisen ausgerichtet. Zu Fronleichnam 2015 bin ich der einzige Gast. Gemeinsam mit dem tollen Gasthaus Überleben, das etwa 20 Minuten entfernt ist, wird es vom Stift Schlägl betrieben. Hier ist's geruhsam, still, ruhig ("Einzellage"!), für WandererInnen ist es eine tolle Unterkunft, freundliche Wirtleute, extrem sauber, günstig. Das Ereignishaus liegt am Ende eines Tales, das in Richtung Tschechien führt, nicht unweit des Klafferbaches. Hier ist weit und breit kein anderes Haus zu sehen, von meinem Zimmer aus sehe ich ein Meer von Bäumen und die Lupinienwiese vor dem Haus, sonst nichts. Einschicht.
Der einzige Gast. Einsamkeit, Stille. Abends lässt mich die Wirtin alleine, und ich genieße die Sonne, in absoluter Stille. Es ist schon spät, ich lese bei offenen Fenster noch einige Seiten (Krimi, nicht Stifter) als ich plötzlich von draussen eine männliche Stimme "Jessica, bist du da??" rufen höre. Eine aufgebrachte Wiener Stimme. Gut, dass ich nicht Jessica bin, und am nächsten Tag ist's vergessen.

Am Dach des Mühlviertels

Gipfel.

Im Schutzhaus am Dreisesselberg kehre ich kurz ein, und dann gilt es den Weg in Richtung des Dachs des Mühlviertels, des Plöckensteins (1.370 Meter) einzuschlagen. Man geht den Weg, den man zuvor knapp unter dem Grat bestiegen hat, am Grat zurück in Richtung Osten. Blauer Himmel, die Sonne sengt. Hi und da hat uns der Granit seltsame Felsformationen hinterlassen, und staunend kommt man zum Dreiländereck Deutschland - Österreich - Tschechien, die Dreiecksmark.

Hier am Rastplatz feiert eine Nürnberger Großfamilie gerade die goldene Hochzeit von "Omma" und "Oppa". Am Gaskocher grillt man Schweinebauch, den man auf dem vor Marinade triefenden Papier, in das der rohe Bauch vom Fleischhacker eingewickelt worden war, verzehrt. Oppa hat gepatzt und Omma wischt indigniert vor ihm auf dem Steintisch herum. Und wischt und wischt während der ganzen Rast, die ich dort einlege. Eine Ehe wie im Bilderbuch.
Wieder bergauf, zum Plöckenstein, eigentlich ein billiger Gipfelsieg. Nicht für mich, ich quäle mich in der Hitze sichtlich, und eine entgegenkommende Bayerin ruft mir "Is eh nimma weit!" nach. Der Plöckenstein ist der Dachstein des Mühlviertels, der Großglockner des Nordens, der K2 des Böhmerwaldes. Das ist schon ein silbernes Gipfelkreuz wert.
Ich biege nicht, so wie geplant, in Richtung See ab, sondern gehe den Grenzweg entlang, genauer gesagt, ich plage mich den Grenzweg hinunter in Richtung Grenzstation. Von da sind es noch 40 Minuten ins Gasthaus zum Überleben, welch schöner Name.

-schlag

Amesschlag. Berdetsschlag. Dietrichsschlag. Eberhardsschlag. Fraunschlag. Geierschlag. Hengstschlag. Innerschlag. Jungschlag. Kollerschlag. Leopoldsschlag. Mitternschlag. Neuschlag. Oberwaldschlag. Pfaffenschlaghäuseln.  Riemetsschlag. Sauschlag. Thurnerschlag. Ulrichschlag. Vorderkönigsschlag. Weigetschlag.

Der See, die "steinerne Träne"

Samstag, 06.06. 2015. Holzschlag  (863m) - Grenzstation I/10 (1003m) - Imbisskiosk Sestak / Hirschröhren (881m) - Plöckensteiner See (1078m) - Adalbert-Stifter-Obelisk (1273m) Plöckenstein  (1379m) - Grenzstation I/10 - Gasthaus zum Überleben - Holzschlag. 24 km, 660 Höhenmeter

Plešné jezero

Am zweiten Tag verschlafe ich und komme erst um sechs Uhr aus den Federn. Beim Überprüfen meines GPS - Gerätes blicke ich beglückt auf die gestrigen Tageskilometer: Über vierzig! Das erklärt natürlich neun Stunden komatösen Schlafes. Als ich wenig später realisiere, dass auch Unfehlbares (Garmin) fehlbar ist, es niemals vierzig Kilometer haben sein können, bin ich zwar pikiert, nehme es meinem GPS aber nicht gram. Oh Garmin Oregon, zu sehr bist du mir ans Herz (besser, an die Schulter) gewachsen!

Die Brenessel des Böhmerwaldes

Der selbe Weg wie gestern, hinauf zur Grenzstation. Ich bewundere die Lupinien, die blauen, die hier überall am Wegesrand wachsen. Die Lupinie ist die Brenessel des Böhmerwaldes. Am tschechischen Teil des Weges bekommt der örtliche tschechische Rettungsdienst beinahe Arbeit mit mir. Er kann mir, dem Wanderer, nämlich nur mit Mühe mit seinem Rettungs-Jeep ausweichen, auch TschechInnen können Kurven zu eng nehmen. Auf Asphalt geht's bergab bis zur Imbisstube Hirschröhren. Stifter hatte recht, hier in der Nähe des Sees ist es immer windstill, zur linken und rechten Seite des Weges wird fleißig aufgeforstet, hier keimen gesunde Fichten. Schließlich geht es in den Wald hinein, bergauf, durch ein nicht immer trockenes Bachbett. Gibt es das, ein "feuchtes Bachbett"?
Auf der Freyung in Wien gibt es eine Stelle, auf der mittelalterlicher Straßenbelag freigelegt ist. Im Mittelalter hielt man nichts von ebenen Wegen. Das soll nicht als Kritik an den PflastererInnen des Mittelalters missverstanden werden, nur fühle ich mich an eben diese Stelle auf der Freyung erinnert, als ich die letzen paar 100 Meter zum See ersteige. Bis hierher herunter hatte sich der Borkenkäfer durchgefressen (oder frisst sich noch durch), der Blick auf die morschen Bäume ist zum Teil spektakulär. Hie und da ein Blick auf die sanften böhmischen Hügeln im Norden, der ohne den Käfer nicht möglich wäre. Und schließlich der See, der Plöckensteiner See.

Stifter würde sich im Grab umdrehen

Seien wir uns ehrlich, Stifter ist nach heutigen Maßstäben als gefühlsduseliger Kitschomane zu bezeichnen: "An deinen Angern ist der Herzschlag des Waldes", schreibt er über den See, die "steinerne Träne".  Junge, Junge.
Das Wasser des Sees ist rötlich und dunkel, die Felsen am Ufer mit roten Flechten bewachsen. Das besondere an diesem Ort ist aber nicht der See selbst, es ist der halbrunde Kessel, in dem er liegt. Gegen Süden hin fällt die Wand des Plöckensteins nämlich steil zum Wasser hinab, einige Wenige Bäume am Ufer sind gesund, die restlichen sind Totholz, die zum Teil ins Wasser gefallen sind und, gegen Osten, ist das Ufer weiträumig von Stämmen bedeckt, die wie ein Berg unordentlicher grauer Mikado-Stäbchen hier verteilt sind. Nichts erinnert hier an das "dichte, ernste Fichtenbande" aus der Beschreibung Stifters, obwohl auch die "ästelosen Urstämme", die "altertümlichen Säulen" als die grauen Stocher des Heute gelesen werden könnten. Jedenfalls, der Stifter würde sich im sprichwörtlichen Grab umdrehen.
An der dem Plöckenstein gegenüberliegenden Seite des Sees führt ein Radweg vorbei, hier ist ein Rastplatz mit einigen Tischen, In der kommunistischen Zeit war hier eine Baracke für Grenzsoldaten, noch früher eine Schutzhütte - nichts erinnert mehr an die Gebäude, außer einiger Photos auf einer Schautafel.
Im Hochparterre des naturhistorischen Museums in Wien hat man vor mehr als 100 Jahren die schönsten Plätze der Monarchie verewigt: Den Erzberg, das Salzbergwerk von Wieliczka, den Triestiner Karst, der Fischsee in der Tatra, Südtirol. Und eben den Plöckensteiner See durch die Hand Adolph Obermüllners. Doch, zu Recht.





Tödliche Schwärme

Der See scheint den TschechInnen wichtig zu sein, ein Aufseher des hiesigen Nationalparkes, in Uniform und kurzen Hosen, patrouilliert die 100, 200 Meter des Nordufers auf und ab, auf und ab. Wir sind beide vom mächtigen Summen eines riesigen Bienenschwarmes mehr als beeindruckt, der bedächtig den See entlang schwebt. Wie überhaupt scheinbar jeder Schritt hier vom Summen und Schwirren von Bienen und ähnlichem Getier begleitet ist. Am Anfang hielt ich dieses beständige Hintergrundgeräusch noch für eine Starkstromleitung - aber wo keine Leitung, da kein Starkstrom. Dann glaubte ich kurz an defekte elektrische Motorsägen - aber wo keine Sägen, da kein Motorendefekt. Der Plöckenstein ist Insektenland, zweifelsohne, und ich bin froh, dass an diesem langen Wochenende kein Thementag zu Killerbienen auf Tele5 angesetzt ist. Gerade Tele5 ist berüchtigt für einschlägige Thementage (Killerhaie, Godzilla, Schlachtfeste der Giganten) und Tele5 ist der einzige Sender, den ich am Fernseher im Fernsehraum meiner Jugendherberge in Gang zu bringen vermag. Was weiß ich, "Angriff der Killerbienen II", "Tödlicher Schwarm", "Mutanten-Maja vs. MechaGodzilla", das Genre könnte schon abendfüllendes hergeben. Im übrigen hat Stifter doch unrecht, wenn er im Hochwald behauptet, hier sei es immer windstill.

Die Träne, vom Obelisken aus

Ein Obelisk im Böhmerwald



Vom See geht ein Steig, am Adalbert Stifter-Denkmal vorbei,  hoch zum Plöckenstein. Warum das Denkmal gerade in Form eines Obelisken errichtet wurde, weiß das Internetz: Auch am Grab in Linz sei ein solcher zu finden, da lag es nahe, auch hier einen zu errichten; der Architekt war im übrigen Heinrich von Ferstel, insofern ist das Denkmal überraschend schlicht.

Hier ist es an der Zeit, einige Beobachtungen zu machen, einige Hypothesen aufzustellen, die WanderInnen und deren Kleidung betreffend. Anderenorts wurde schon ausreichend über das unzureichende Schuhwerk geklagt, mit dem der Wanderer, die Wandererin auch die unmöglichsten Stellen erklimmen. Mein Liebling diesmal waren Ballerinas aus Plastik. Auch hege ich den Verdacht, dass in einigen Jahren das Wanderhemd für den Mann verschwinden und durch Funktionsshirts ersetzt werden wird, die Radfahrer normalerweise tragen - grellbunt, figurbetont, ein Täschchen am Rücken. Ein Modetrend, der grundsätzlich abzulehnen ist. Des weiteren verwundert mich, dass erwachsene Wandererinnen sich so gerne mit rosa Accessoires schmücken. Aber, wer bin ich, in Stilfragen Kritik zu üben, am Plöckenstein trage ich ein geknotetes Geschirrtuch am Kopf, da ich meinen Sonnenhut am Zimmer vergessen hatte, aus einer Not eine Tugend machend.


Adalbert Stifter ist hier ausgereizt

Adalbert-Stifter-Volksschule. Adalbert-Stifter-Steig. Adalbert-Stifter-Obelisk. Die Flechten des oberen Mühlviertels zur Zeit Adalbert Stifters (Schautafel). Adalbert-Stifter-Rundweg. Adalbert-Stifter-Jugendherberge. Stifter-Haus. Adalbert-Stifter-Mehrzweckhalle. -Gemeinde. -Verein. -Jahrbuch. Adalbert-Stifter-Institut. Adalbert-Stifter-Straße. Tschechisch-Deutsches-Adalbert-Stifter-Symposion.

Der in Linz ansässige Adalbert Stifter bezog seine Würstel vom Fleischermeister Lahner (Ecke Kaiserstraße / Lerchenfelderstrasse) aus Wien, allerdings nur im Winter, weil sie (die Würstel) ansonsten den Transport nach Linz per Postkutsche nicht überlebten.  Stifter ist ausgereizt, dank Kurt Palm auch in der Forschung (Suppe Taube Spargel sehr sehr gut. Essen und trinken mit Adalbert Stifter. Löcker Verlag, Wien 1999). 
In einigen großen Buchhandelsketten in Wien (etwa Thalia) gibt's im übrigen kein einziges Buch von ihm (Stifter, nicht Palm), und der Buchhändler meines Vertrauens in der Alser Straße drückte mir vor der Reise dankbar den Nachsommer (9,90 statt 39,90, 743 Seiten) in die Hand, der Hochwald war vergriffen. 

Schwer lag er in meinem Rucksack, der Nachsommer.

Not und Tugend

Epilog. Kulinarisches aus dem Gasthaus zum Überleben - eine Empfehlung

Neben dem Donauparadies Gierlinger ist das Gasthaus zum Überleben ein weiterer kulinarischer Höhepunkt im Mühlviertel.
Kistensau mit Mehlknödel
Saurer Kaas