Freitag, 2. Mai 2014

42.195 Wien. Auf den Spuren Getu Felekes


Reichsbrücke - Praterstern - Hauptallee - Schüttelstraße - Schwedenbrücke - Ring - Linke Wienzeile - Schloßallee - Mariahilferstraße - Ring - Lichtensteinstraße - Julius Tandler Platz - Friedensbrücke - Brigittenauer Lände - Praterstraße - Praterstern - Stadion - Lusthaus - Schüttelstraße - Franzensbrücke - Vordere Zollamtstraße - Ring - Heldenplatz

1. Mai 2014, 41,125 km. Start 5:45 Uhr, Ziel 16:30 Uhr

Über 42.000 Läuferinnen und Läufer haben 2014 am Wienmarathon teilgenommen, das sind etwa zehn mal so viele wie bei der ersten Auflage vor dreißig Jahren. Ich selbst habe ja mehrmals zu laufen begonnen. Nach traumatischen Erlebnissen während der Schulzeit erinnere ich mich an einen Anlauf Mitte der 90iger Jahre. Ich wohnte damals am Ende der Pfeilgasse, und eines winterlichen Morgens hatte ich mir ein Herz gefasst und bin, ausgerüstet mit Handschuhen und Haube, gestartet. Über die Tigergasse, 300 Meter entfernt, bin ich nie hinaugekommen, es blieb bei dem einen Versuch.  Um 2003 hatte ich dieses läuferische Abenteuer offensichtlich schon vergessen; draufgängerisch startete ich beim Wiener Frühlingslauf. Es war wunderbares Wetter, und über die Reichsbrücke ging es schnell voran, so schnell, dass ich am Mexikoplatz bereits zu spazieren begonnen hatte. Wenig später, ich bilde mir ein, es war dann doch am Ring, verfolgte mich bereits das Mistkommando, das traditionell am Ende des Teilnehmerfeldes Pappbecher und Bananenschalen einsammelte; nicht nur die MA 48, sondern auch eine Migräne holte mich ein und ich fand mich in einem Lazarettzelt wieder, wo mir schnell eine Spritze unbekannten Inhalts gesetzt und ich recht rasch wieder in die Freiheit entlassen wurde.
Man wird mir also kaum abnehmen, dass der Marathon eine magische Anziehungskraft auf mich ausübt, der ich mich nicht entziehen kann. Aber neugierig bin ich schon. Mein bisheriger Weitenrekord beim Wandern sind 34 km, und die letzen Kilometer robbte ich seinerzeit quasi am Zahnfleisch. Also, werde ich die 42,195 km (als Wanderer) schaffen? Und wie mache ich mich bis zum Einbiegen auf den Heldenplatz? Ich bin mal gespannt.

Frühmorgens auf der Platte

Ich starte gegen sechs Uhr auf der Platte, bewundere den DC Tower und die völlig heruntergekommenen Lokale der Copa Cagrana und der Sunken City. Der Wind bläst stark, so wie er es auf der Platte immer tut; keine Menschenseele weit und breit, nur ein Mann auf einem blauen Rennrad überholt mich. Das Schulschiff liegt ruhig vor Anker, und die Kellner eines Kreuzfahrtschiffes rauchen bedächtig an ihren Zigaretten, bevor die ersten Gäste das Frühstückbuffet stürmen.
Am Mexikoplatz kann man angeblich günstig allerhand Kram einkaufen, nur nicht zu dieser Uhrzeit. Bienenfleißige BankerInnen der Bank Austria bevölkern ansonsten die Lasallestraße, nur nicht heute. Dafür ist am Praterstern umso mehr los, in Gruppen stehen übriggebliebene Kinder der Nacht zusammen, und nicht wenige erstehen im Mac Donalds ihr Frühstück. Auch das traditionelle Klientel des Pratersterns - jenes mit schlechten Zähnen und einem verbesserungswürdigen Zugang zur Körperpflege - ist schon zahlreich versammelt. Ich entfliehe dem Stern in Richtung Prater.

Im Prater blüh'n wieder die Bäume

Auf der Wiese beim Riesenrad machen einige Arbeiter die letzen Handgriffe zum Aufbau der Bühnen, der Hendlgrills und der Getränkestande - hier wird's heute noch Rambazamba am Praterfest geben. Die Streckenführung des Marathons macht es möglich, dass ich mich in einigen Stunden auch davon überzeugen werde können. Die Kastanien auf der Hauptallee blühen in ihrer ganzen Pracht, und es fehlt nicht viel, und Robert Stolz nebst Gattin werden in einem Fiaker vorbeigezogen, Enzi Stolz ein Potpourri von Roberts schönsten Melodien summend. Ich gedenke dem Film aus den 50igern mit Theo Lingen und der Matz, "Im Prater blühen wieder die Bäume", der zu einer Zeit spielt, zu der man noch Mitzi hieß und die Mitzi die Beförderung ihres Galans zum dritten Korepititor noch am Blumenkorso im Prater feierte.  Beim Stadion biege ich dann nach rechts, und entlang von Schrebergärten komme ich beim Donakanal an, in der Schüttelstraße.

Schüttel owi

Schöne Lokale an der Lände
Wollen wir euphemistisch sein. Die Schüttelstraße zählt, neben der Triester Straße und der Tangente zu den urbansten Gegenden der Stadt. Vom Flughafen oder aus dem Burgenland kommend brausen die Autos hier in das Zentrum Wiens.  Auf die Schüttelstraße hätte ich heute gut und gern verzichten können. Trost bringt dann, nach der Querung des Kanals bei der Schwedenbrücke, der Ring. Hier bereiten umsichtige PolizistInnen den Aufmarsch zum 1. Mai vor, und gelangweilte Kellner in schwarzen Anzügen beobachten das Aufbauen von Sperren und die Umleitung des Verkehrs. Nach 2 Stunden und 5 Minuten bin ich dann am Schwarzenbergplatz, also zu einer Zeit, in der Getu Feleke, der Sieger des Marathons 2014, einige Wochen zuvor bereits triumphierend am Heldenplatz einlief. Ich habe noch Schönbrunn, das Lichtenthal und ein zweites Mal den Prater vor mir, und, dies gedenkend, kehre ich hier auf ein Schwarzenbergfrühstück ein. Neben mir sitzen zwei deutsche TouristInnen, beide um die 30, die sich, trotz der frühen Stunde, bei Marmelade und Eier im Glas sehr lebhaft über die deutsche Klassik unterhalten. Allerdings besteht diese Unterhaltung eher aus einem Monolog des Mannes, der in der Aussage gipfelt: "Ich hab' schon Schiller gelesen, da warst du noch nicht einmal geboren!" Wohlig erschaudernd ziehe ich weiter, die Aufstellung der Fraktion Sozialistischer Gewerkschafter zum Aufmarsch beobachtend, hinauf Richtung Schönbrunn.

Wienzeile, Schönbrunn und eine gesperrte Mariahilfer

Schöne Geschäfte: Mariahilfer Straße 200
Ich war vorhin ungerecht. Die Linke Wienzeile gehört, vor allem auf der Höhe des Gürtels, auch zu den urbansten Gegenden der Stadt. Hier gibt es zwar immer wieder kleine Parkanlagen und Bänke, aber niemand würde ernsthaft Erholung suchen. Vor allem zu Beginn, auf Höhe und nach dem Naschmarkt, sind hier prachtvolle Häuser zu finden, aber die Geschäfte ziehen ab und verstecken sich in den Tiefen des sechsten Bezirks oder ganz woanders. Der Wienfluss ist zur Zeit ein träges Bächlein, und vom Rückbau und den Spazierwegen entlang des Wassers ist hier auch nicht viel zu sehen, kein Wunder, fließt der Fluss doch hier auch unterirdisch. Später, in Schönbrunn, ballen sich die TouristInnen, die Busse parken in zweiter Spur und auch aus der U-Bahn quellen Trauben von Menschen. Ein Unterschied zu früher am Morgen und ein Vorgeschmack auf später.
Perlen der Wienzeile
Ich werfe einen kurzen Blick auf das Schlos, denke erneut an die Johanna Mratz (im Flm, "Im Prater..." also known as Lissi), die mit einem Erzherzog Peter Ferdinand (welcher Habsburger hieß schon je Peter? Also wirklich, WienFilm!) ein jungfräuliches Pantscherl hatte. Wenig später geht es in Richtung der Äußeren Mariahilferstraße. Genauso wie die Innere Mariahilferstraße eine Einkaufsmeile, ist die Äußere eine Schnitzelsemmelmeile. Imbiss an Imbiss reiht sich hier aneinander, und man kann zwischen Emmentalersemmerl, gebackenen Geflügelteile oder Kebab wählen. Die tragische Attraktion der Mariahilferstraße ist aber zur Zeit das explodierte Haus, das von der Feuerwehr und mit großem Gerät abgebaut und von gezählten acht PolizistInnen großräumig abgesperrt wird. 
In einen der Nebenstraßen hier wohnten einst Freunde, und so manches Espresso, so manches Tschecherl wecken Erinnerungen.  



Gesperrte Mariahilfer

Jo schau owa!

Heraus zum ersten Mai!

2006 und 2007 folgte ich am ersten Mai, mit Kinderwagen, noch der Sektion Fuchsenloch und zog von Ottakring hinein zum Rathausplatz. Ich kannte zwar niemanden, aber das Wetter war schön und die älteren Semester erzählten interessantes, etwa, wie diese Märsche in den 30igern des vorigen Jahrhunderts organisiert worden waren. Die Musik war gut, es gelang mir immer, mich hinter einer Jazzband einzuordnen, und schon damals waren die DINKS (heute: Bobos) lustige Kerlchen in roten Schuhen.
Als Richard Nimmerrichter noch als Kolumnist wirkte, war der Tag der Arbeit immer ein Großkampftag der Krone. Man feierte seinerzeit etwa, dass die StraßenbahnerInnen endlich auch am ersten Mai arbeiten müssen und der Staberl machte sich über die lichten Reihen beim Maiaufmarsch der Sozis lustig, früher sei das viel geordneter und dichter abgegangen. Ich muss hier dem Staberl widersprechen. Die Reihen sind nicht licht, nur die Gruppen sind kleiner. Die Gruppe der FSG etwa, mit Präsidenten Erich Folgar an der Spitze, hat gleichviel MarschiererInnen wie MusikantInnen dabei und ich habe schon Sorge, dass der erste Mai 2014 eine morbide Geschichte wird. Bestärkt werde ich hierbei von den Caledonian Pipes and Drums Burgenland, die für den Präsidenten und seine Freunde "Ich hatt' einen Kameraden" spielen, auf schottisch. 
Der Bürgermeister blickt auf seine roten Socken
Eine dünne Waldviertler Vertreterin der schwarzen Kernwählerschaft, mir persönlich bekannt (und wenig zugetan) behauptete ja immer, dass die Parteispitze der SPÖ die MarschiererInnen mit Würstel und Bier bestechen würde. Meine Einwände, dass ich nie Würstel und Bier bekommen hätte, wurden von der schwarzen Waldviertlerin immer weggewischt; Kreisky selbst hätte verdienten GenossInnen die Frankfurter mit den bloßen Händen aus dem kochenden Wasser gefischt. Meinerseel. Aber vielleicht hätte die Partei heute zu solchen Tricks greifen sollen? Die Abordnungen  aus Mariahilf und Neubau, die ich am Morgen beobachte sind so klein, dass solche Taschenspielertricks wohl notwendig wären. Allerdings ist mein negativer Eindruck am Morgen fehl am Platz, gegen Mittag ist der Ring gut gefüllt und mit Interesse beobachte ich die Stände von Gruppierungen links der Sozialdemokratie und den Aufmarsch der KPÖ, der zahlenmäßig übrigens stärker war als der der FSG. Hier agitieren die Gruppe Klassenkampf der österreichischen Sektion des Kollektivs permanente Revolution (CoRep), Gruppierungen aus dem Nahen Osten, die Jugendorganisation Revolution und die Organisation arbeiter-innen-kampf, während die SPÖ am Mercato Rosso trinkt.

Jedoch - beeindruckend ist der erste Mai allemal. Die stolzen alten Fahnen, die mitgetragen werden, die alten Symbole wie das der drei Pfeile, dem Kampfabzeichen der Sozialdemokratie gegen Faschismus und Reaktion, eingefasst vom "roten Ring der Freiheit". Menschen, die stolz das Abzeichen des ersten Mais tragen und kleine Fahnen schwenken.
Ansonsten ist es der richtige Tag, rote T-Shirts auszutragen, rote Schuhe oder Hosen anzuziehen oder sich den Commandante an die Brust zu pinnen. Ich sehe den Schriftzug der Aeroflot, CCCP, das Bildnis des Maximo Liders, daneben antichambrierende Wiener VorstandsdirektorInnen - und den Chef der Raiffeisenbank Oberösterreich, dem ich aber nicht unterstelle, zum Maiaufmarsch in die Bundeshauptstadt gekommen zu sein, so schlimm kann es nun wirklich nicht um die Raika OÖ stehen - oder? 

Doderer-Gedächtnis-Marathon

Doderers Stiege
Ich verlasse die Innere Stadt über die Lichtensteinstraße, an deren Ende sich ja die Strudelhofstiege befindet. Hier, auf den Stufen sitzend, denke ich an den Doderer und daran, dass mein Weg mich heute durch viele Schauplätze der Dämonen und, eben der Strudelhofstiege führt. Der Weg ging am Justizpalast vorbei, hier an der Stiege strudelt der Rene Stangeler durch die Romane, Major Melzer wohnte in der Porzellangasse, nicht unweit der Miserowkyschen Zwillinge;  am Julius Tandlerplatz, wird der Mary K. am 21. September 1925 von der Tramway der Unterschenkel abgefahren; sie wohnte übrigens am Althanplatz 6 (heute eben der Tandlerplatz), einige Wochen vorher spielte sie noch im Prater Tennis. Der rumänische Arzt Dr. Negria ruderte am Kanal seine mehr oder weniger Geliebten durch die Gegend, und bei der Friedensbrücke verbrachte der Weber Leonhard Kabaska schöne Stunden mit jungen Damen. Nur zur Sommerfrische an der Rax komme ich heute nicht.

Zurück in den Prater

Es ist nun nach Mittag, und ich werde mürbe. Das Beuschel nahe der Taborstraße richtet mich wieder auf,
Auch das ist die Hauptallee
und ich strebe via Praterstraße und -stern wieder der Hauptallee zu. jetzt ist der Prater mehr als gefüllt, auch wenn die Bands vor dem Riesenrad gerade in Pause sind; man kommt kaum durch die Massen hindurch. Ich frage mich kurz nach den Tagesumsatz im Schweizerhaus und mache mich daran, den Weg zum Lusthaus abzuarbeiten, der nicht und nicht kürzer wird. Das selbige ist gut gefüllt, unzählige deutsche Sportcoupes geben einen Eindruck von der dortigen Gästeschar, einige ReiterInnen kommen hier gemächlich vorbei. Ich habe wenig Lust, hier Rast zu machen. Die Hauptallee ist ja eine Begegnungszone für LäuferInnen, RadfahrerInnen und SpaziergängerInnen, und man spürt die Ressentiment der einzelnen Gruppen gegenüber den anderen. Wieder zurück in Richtung Stadion, der Weg wird nicht kürzer, und auch das zweite mal Schüttelstraße nimmt mich nicht für die Gegend hier ein. Aber - ein Ende ist in Sicht!

Heldenplatz - ein Einlauf

Machen wir es kurz: ich werde langsamer. Im Prater sitze ich einige zeit auf einer Bank und belausche zwei Amerikaner, die sich über den "kommunistischen Auflauf" heute unterhalten und über die Möglichkeit, "diese Menschen zu heilen". Bei einem Würstelstand geselle ich mich zu einer Gruppe RadfahrerInnen und höre ihnen beim Schweigen zu. Eine kleine Portion Eis. Ein schwarzer Kaffee. Dort eine Halbe Soda, da noch eine. Der "kommunistische Auflauf" hat sich zerstreut, aber nicht die TouristInnen, mit einer Reisegruppe unbestimmter Herkunft laufe ich, dann doch stolz, am Heldenplatz ein.   
Beweisphoto.


Ein Resüme in Zahlen.

  • 42.195.
  • 62. Ich musste zweiundsechzig Ampeln queren, gefühlte einundvierzig davon waren rot.
  • 17. In siebzehn verschiedenen Imbissen hätte ich mit einer Schnitzelsemmel nichts für meinen Cholesterinspiegel tun können.
  • 11. Wien ist eine Stadt der öffentlichen Toilettanlagen. Eines der dichtesten Toilettanlagennetze überhaupt.
  • 9. In neun verschiedenen Wettlokalen hätte ich auf das Spiel des Tages (Juventus gegen Benfica) setzen können und hätte neun mal verloren.
  • 9. Neunmal wären mir die Haare geschnitten worden, wenn der Tag der Arbeit ein Arbeitstag wäre.
  • 6. An sechs verschiedenen Stationen hätte ich beim Mac Donalds einkehren können, einmal wäre ein Whooper Ersatz gewesen.
  • 2. Eine Tube Diana mit Menthol war am Abend zu wenig. 













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